Über Lew und Swetlana

Auf dem Bild sind drei Menschen zu seine, ein älteres Paar und eine Frau. Das Paar sitzt, die Frau steht hinter ihnen. Sie ist ihre Tochter. Der Mann streichelt die Schnauze eines Hundes. Das Bild ist schwarzweiß, es wurde in Moskau im Winter 2004 aufgenommen.
Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)

Lange Zeit fand ich nicht die richtigen Worte, um diese Geschichte zu erzählen, die Geschichte über Lew und Swetlana. Und ob die gefundenen Worte nun die richtigen sind, kann ich nicht beurteilen, eines Tages fing ich einfach an zu schreiben, und es schrieb sich dann weiter (um einen Ausdruck aus dem Russischen zu übernehmen). Der Roman über das Leben von Lew und Swetlana erscheint nun unter dem Titel „Wir verstehen nicht, was geschieht“ im Spätsommer im Verbrecher Verlag.

(An diesen älteren Post war eine Leseprobe aus dem Manuskript angeheftet, die ich entfernt habe. Der Text hat sich seitdem weiterentwickelt, der Titel des Buches wird ein anderer als der Arbeitstitel sein.)

Lange habe ich mich gefragt, warum mich ihre Geschichte nicht loslässt und warum es mir so schwerfällt, sie zu erzählen. Ein Paar lernt sich kennen, lernt sich lieben … und wird durch den Zweiten Weltkrieg auseinandergerissen. Millionen Menschen in der Sowjetunion erging es ebenso. Im Fall von Lew und Swetlana kommt noch hinzu, dass Lews Eltern vor dem Krieg von den neuen, kommunistischen Machthabern ermordet wurden und er nach dem Krieg weiter politisch verfolgt wurde.

Fast 14 Jahre mussten die beiden darauf warten, dass sie eine gemeinsame Zukunft aufbauen konnten; einige Jahre wussten sie noch nicht einmal, ob der Partner/die Partnerin überhaupt noch lebt. Und von irgendwoher nahmen sie immer wieder die Kraft, weiterzumachen.

Als ich Lew und Swetlana im Winter 2004/2005 kennenlernte, waren sie schon sehr alt. Doch sie waren ungeheuer neugierig und offen. Sie strahlten einen starken Lebenswillen und Lebenshunger aus. Sie hatten eine große Bibliothek zu Hause, Bücher aus mehr als 100 Jahren Familiengeschichte.

Mai 2017, im Zug nach Petschora. (Bild: Viktor Funk)

Um über das Leben von Lew und Swetlana zu schreiben, wollte ich noch unbedingt nach Petschora reisen, einer kleinen Stadt im hohen russischen Norden, wo Lew Gulag-Häftling war. Gulag ist ein Akronym und steht für glawnoje uprawlenije lagerei = Hauptverwaltung für Lager. Das sowjetische System der „Arbeitsbesserungslager“ entstanden Anfang der 1920er Jahre und wurde erst etwa Mitte der 1950er Jahre aufgelöst. Die Grundidee der Strafkolonien in weit abgelegenen Regionen besteht allerdings bis heute fort.

Im Mai 2017 brach ich auf nach Petschora (Flug nach Moskau, von dort eineinhalb Tage mit dem Zug gen Norden). Ich hatte schon erste Ideen für den Text, wusste, wohin er führen sollte, wusste aber noch nicht, wie die Geschichte ab dem angedachten, dramatischen Höhepunkt weiter gehen würde.

Der Zug fuhr auf derselben Strecke, auf der Lews spätere Frau Swetlana zu ihm gereist war, um ihn im Lager zu besuchen. Einige der Dörfer entlang der Bahnstrecke gab es schon, als Swetlana Ende der 1940er Jahre hier unterwegs war. Es ist einerseits nichts Besonderes, diesen Weg nachzureisen, andererseits hatte ich den Eindruck, so der Geschichte näher zu kommen.

In Petschora schließlich fand ich etwas, das ich nie erwartet hatte. Ich verrate hier natürlich nicht, was es ist, der „Fund“ lieferte dem Roman eine wichtige Idee, er war der fehlende Teil in dieser Geschichte (und für mich einmal mehr der Beweis, warum Recherche vor Ort und direkte Gespräche mit Zeugen und Zeuginnen oder Fachleuten so wichtig sind). Nur so viel: Es handelt sich um die Antwort auf einen Brief, den Lew jemanden in Petschora geschrieben hatte. Eine Antwort, die Lew offenbar nie persönlich erhalten hatte. Aber sie hätte ihn sehr gefreut.

Erscheint ca. August 2022.

In etwa zwei Monaten erscheint „Wir verstehen nicht, was geschieht“ beim Verbrecher Verlag. Dies ist für mich eine doppelte Freude: Zum einen ist mir die Geschichte über Lew und Swetlana sehr wichtig. Es ist eine Geschichte über Hoffnung und Vertrauen trotz furchtbarer Umstände, in denen Menschen leben (müssen). Vielleicht kann ihre Geschichte auch anderen Hoffnung geben. Und zum anderen freue ich mich sehr, dass dieses Buch in diesem sehr besonderen Verlag erscheint. Dass dies alles mal so passieren könnte, habe ich während der langen Zugfahrten nach und von Petschora nicht zu träumen gewagt. Damals spürte ich nur, jetzt ist die Zeit reif, jetzt muss die Geschichte erzählt werden.