Mein Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ handelt von einigen Menschen, die in für uns kaum vorstellbar schrecklichen Umständen ein erfülltes Leben gelebt haben. Ich habe von diesen Menschen sehr viel gelernt und bin sehr dankbar, ihnen begegnet zu sein. Und der Roman versucht auch einen Ausschnitt aus der Geschichte eines sehr komplizierten Landes zu erzählen, dessen Gegenwart immer stärker an seine dunkle Vergangenheit erinnert.
Im Oktober 2017 eröffnete der russische Präsident in Moskau ein Denkmal für die Opfer des sowjetischen Straflagersystems, das auch im Westen unter dem Akronym GULAG bekannt geworden ist. Gulag steht für glawnoje uprawlenije lagerei – Lagerhauptverwaltung.
Dass ein Zögling eben jener Institution, die für den Aufbau des Lagersystems wie für die Repression der Opfer zuständig war, das Denkmal „Wand der Trauer“ einweihte, war zwar etwas Besonderes, wichtiger war aber, was Wladimir Putin sagte. Genauer: was er nicht sagte(Linkruss).
In seiner Rede sprach der Tschekist* von den Verbrechen, die nicht vergessen werden dürften. Er nannte aber zu keinem Zeitpunkt die Täter, sagte nichts zur Verantwortung des Staates oder Institutionen oder Individuen, warnte gar vor einer „Aufrechnerei“. Als ob etwas über die Menschen damals gekommen sei, wie eine unlenkbare Kraft.
Auf diese Weise lehnte er jegliche Verantwortung des Staates oder des sowjetischen Geheimdienstes für die Verbrechen ab. Übriges: Die gleiche Argumentationsstrategie bemüht das russ. Regime auch heute und rechtfertigt seinen verbrecherischen Überfall auf die Ukraine.
Nur kurze Phase der kritischen Aufarbeitung
Es gab in der Geschichte Russlands nur eine kurze Zeitspanne der kritischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, sie begann Ende der 1980er Jahre unter Gorbatschow, wurde unter Putin Stück für Stück eingeschränkt und schließlich mit dem faktischen Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021 ganz unmöglich gemacht.
Als ich an „Wir verstehen nicht, was geschieht“ zu schreiben begann, gab es bereits Einschränkungen für alle, die Vergangenheit so zu sehen versuchten, wie sie war und nicht, wie sie sich jemand idealisierend vorstellte. Ein neues Datenschutzgesetzt erschwert den Zugang zu Dokumenten in den staatlichen Archiven. Die Mitarbeiterinnen im Museum für Heimatkunde in Petschora, einer Stadt, die ihre Entstehung einem Straflager „verdankt“, erklärten wie das Gesetz funktioniert:
Lange Zeit fand ich nicht die richtigen Worte, um diese Geschichte zu erzählen, die Geschichte über Lew und Swetlana. Und ob die gefundenen Worte nun die richtigen sind, kann ich nicht beurteilen, eines Tages fing ich einfach an zu schreiben, und es schrieb sich dann weiter (um einen Ausdruck aus dem Russischen zu übernehmen). Der Roman über das Leben von Lew und Swetlana erscheint nun unter dem Titel „Wir verstehen nicht, was geschieht“ im Spätsommer im Verbrecher Verlag.
(An diesen älteren Post war eine Leseprobe aus dem Manuskript angeheftet, die ich entfernt habe. Der Text hat sich seitdem weiterentwickelt, der Titel des Buches wird ein anderer als der Arbeitstitel sein.)
Lange habe ich mich gefragt, warum mich ihre Geschichte
nicht loslässt und warum es mir so schwerfällt, sie zu erzählen. Ein Paar lernt
sich kennen, lernt sich lieben … und wird durch den Zweiten Weltkrieg
auseinandergerissen. Millionen Menschen in der Sowjetunion erging es ebenso. Im
Fall von Lew und Swetlana kommt noch hinzu, dass Lews Eltern vor dem Krieg von
den neuen, kommunistischen Machthabern ermordet wurden und er nach dem Krieg
weiter politisch verfolgt wurde.
Fast 14 Jahre mussten die beiden darauf warten, dass sie eine gemeinsame Zukunft aufbauen konnten; einige Jahre wussten sie noch nicht einmal, ob der Partner/die Partnerin überhaupt noch lebt. Und von irgendwoher nahmen sie immer wieder die Kraft, weiterzumachen.
Dilek Güngör und ich waren nach unserer ersten Doppellesung sehr überrascht, wie gut das Format ankam: Dileks Buch („Ich bin Özlem“) und mein Buch handeln von ähnlichen Erfahrungen sehr unterschiedlicher Menschen. Und wir wollten das Verbindende im Unterschiedlichen offenlegen. Wie ergeht es Özlem, der Tochter von aus der Türkei eingewanderten Eltern, und was haben sie und der russlanddeutsche Protagonist aus dem „Bienenstich“ gemeinsam?
Wir müssen uns nichts vormachen: Viele Überschneidungen im privaten Leben gibt es zwischen den Gruppen der Russlanddeutschen und den Gastarbeiter:innen oder ihren Nachkommen im Alltag oft nicht. Und genau hier wollten wir ansetzen und zeigen, dass es viele Berührungspunkt zu entdecken gibt, wenn man nur miteinander spricht und die eigenen Erfahrungen als Migrant:in in Deutschland teilt.
Ich bin mir sicher, dass diese Ähnlichkeiten auch bei anderen Gruppen zu finden sind, vielleicht ganz grundsätzlich sogar bei allen Menschen – so unterschiedlich wir alle sind.
Vor dem damals ersten Termin in Mannheim (25.11.2019) habe ich diesen Text hier geschrieben:
„… Ich ringe mit Bildern und Gefühlen, die mich unerwartet überfluten, ich höre die Stimme meiner Großmutter, die weint und auf sich schimpft, wie „dumm“ sie sei, wie „ungebildet“ und dass wir, ihre Enkel, „lernen“ sollen, „lernen, lernen, ihr müsst lernen, dass ihr nicht so dumm sterbt wie mir“. Sie sagte immer „mir“ statt wir. Und sie klagte so an dem Tag, an dem mein Großvater gestorben war, nach 49 Jahren gemeinsamer Zeit. …“ ZUM TEXT
Dilek schrieb:
„… Man könnte meinen, dieses Extralob, dieses Herausgehobenwerden vor der Klasse mache Kinder stolz und stark. Es machte mich nicht stolz und stark. Es lehrte mich, dass meine Herkunft etwas war, was groß und klotzig in meinem Leben stand und immerzu erwähnt und erklärt werden musste. Es machte mich hellhörig für das Aber, das Eigentlich, das Normalerweise. …“ ZUM TEXT
Nach der damaligen Lesung kamen gleich mehrere Anfragen für weitere Termine, doch die fielen Corona-bedingt aus. Umso schöner war es, dass wir im Dezember 2020 dann wieder so eine Doppellesung digital abhalten konnten, davon gibt es auch ein Video*:
Und es geht weiter: Für dieses Jahr gibt es bereits mehrere Anfragen, wir haben einige Termine im Doppelformat (schreibe ich unter Termine, sobald sie fix sind).
In der Identitätsdebatte wird oft gesagt, sie spalte. Ich denke eher, dass wir besser in der Lage sind, das Gemeinsame zu sehen, je bewusster wir unserer selbst sind. Wenn ich weiß, wer ich bin und wie mein Ich entsteht, dann fürchte ich mich weniger vor den anderen und vor Veränderungen. Wahrscheinlich wird es aber noch lange dauern, bis wir diese Diskussion ruhiger führen können, es sind zu viele Verletzungen im Spiel, zu viel Bewegung in den gesellschaftlichen Strukturen, auch zu starke Machtverschiebungen. Und so etwas läuft nie stressfrei ab. Weniger verbissen, weniger verletzend und weniger verhärtend können solche Debatten aber sein. Auch das ist die Idee hinter den Lesungen von Dilek und mir.
Wahrscheinlich haben wir eine falsche Vorstellung davon, wie und warum Menschen Repressionen, Gewalt und Folter überstehen. Das Hollywood-Bild von solchen Menschen zeigt meist harte Helden. Aber es spricht einiges dafür, dass Menschen – im besten Sinne – weich, fühlend und mitfühlend sein müssen, um brutalste Bedingungen einigermaßen gesund durchzuhalten. Arno Gruen schreibt in „Der Kampf um Demokratie“: „Auch DesPres‘ Studie über die Überlebenden der Todeslager zeigte, daß nur jene eine Überlebenschance hatten, die ihr Mitgefühl nie verloren.“ Als ich das las, machte es Klick und ich musste an Lew und Swetlana denken.
Wie überlebt ein Mensch all das, was die beiden überlebt haben, wie verarbeitet ein Mensch traumatische Erfahrungen? Ich habe diese Frage viele Jahre mit mir herumgetragen. An eine Antwort habe ich mich durch die wahre Geschichte von Lew und Swetlana angenähert, einem außergewöhnlichen Paar aus Moskau, das zwei Kriege, Repressionen, Verfolgungen und Demütigungen überstanden hat.
(Hier war bis Juni 2022 ein Textauszug zu lesen, ich habe ihn entfernt, weil er sich verändert hat. Das Buch über diese besonderen Menschen wird im Spätsommer 2022 erscheinen: „Wir verstehen nicht, was geschieht“, Verbrecher Verlag.)
Die folgenden Bücher haben mich alle sehr berührt und etwas in mir bewegt, so dass ich sie gerne empfehlen und kurz vorstellen möchte. Eine innere Verbindung zwischen den Büchern erkenne ich nicht, die Psychoanalytiker unter euch sind aber frei, mir die Deutungen dazu zukommen zu lassen.
Los geht’s mit dem schwersten und schönsten Buch: „Castros Kuba“ von Lee Lockwood. Der Autor dieses Bildbandes ist Journalist, er hatte als einer von wenigen westlichen Journalisten die Gelegenheit, längere Zeit mit Fidel Castro zu verbringen und ihn über die junge nachrevolutionäre kubanische Gesellschaft zu interviewen. Da ich selbst in der Sowjetunion geboren und den Kalten Krieg aus beiden Perspektiven kennengelernt habe (der tiefere Blick war natürlich nur rückwirkend möglich) fand ich an diesem Buch, dessen Text im Jahr 1967 entstanden war, die Voraussicht sehr faszinierend. Lockwood hatte sehr früh erkannt und gesehen, in welche Richtung sich Kuba entwickeln würde, wenn die USA es als Feind betrachtet würden. Dieses Buch lehrt, wie Konflikte zwischen Staaten entstehen, und es könnte helfen, die Muster solcher Konflikte in ihrer frühen Entwicklung zu begreifen und vielleicht den Lauf der Geschichte positiv zu wenden. Für alle, die sich für Kuba, Fotografie und internationale Beziehungen interessieren, ist das Buch ein Gewinn. Ich habe den Band für die Frankfurter Rundschau besprochen.
„Der König der Favelas“ von Misha Glenny – ein Thriller, ein Krimi, ein Dokument für desaströse Sozialpolitik und was aus ihr folgt. Vor dem Buch hatte ich ein Interview mit Glenny gelesen, das mir sympathisch war. Ich kenne keine weiteren Arbeiten dieses britischen Journalisten und weiß nicht, wie er grundsätzlich tickt. Was mir aber am Buch gefällt, ist die Verknüpfung von Kriminalität und sozialer Politik, die Herausarbeitung der gegenseitigen Beeinflussung und das Offenlegen von einem grundsätzlichen Problem: Kluge Sozialpolitik, die destruktive Milieus aufbricht, ohne die Menschen zu entwerten und zu töten (ja, zu töten), braucht kluge, empathische Entscheider und staatliche Institutionen, die diese Politik umsetzen können. Auch dieses Buch habe ich für die FR rezensiert.
Und nun ein Roman mit einem fast schon schmerzhaft vorausschauenden Blick: „Der letzte Kampf des Kapitän Ni’mat“, der Autor Mohamed Leftah war ein aus Marokko stammender Intellektueller, der lange in Paris gelebt hatte. Er starb 2008 in Kairo. Sein Buch handelt einerseits von einem elitären Zirkel alter Militärs in Ägypten und andererseits von der religiösen Radikalisierung der ägyptischen Gesellschaft. Es ist einerseits die Geschichte eines alternden Militärs, der seine Homosexualität entdeckt (dann folgen private Dramen), und es ist andererseits die Geschichte eines Landes, in dem innerhalb einer Diktatur eine andere radikale Bewegung entsteht. Ich habe das Buch mehrere Jahre nach dem rasch verblühten Arabischen Frühling gelesen, und beim Lesen des Buches dachte ich: „Scheiße, die ganze demokratische Revolution hatte nie eine Chance, ihr Scheitern war unvermeidbar.“ Literatur, die eine Gesellschaft so tief erfassen kann, ist für mich große Literatur. Das Buch ist hier erhältlich. (Es erschien im selben Verlag wie mein Buch, das nur für die Transparenz.)
„Mein Sohn, …“ Das sind die ersten Worte des Buches „Zwischen mir und der Welt“ von Ta-Nehisi Coates. Das Buch ist ein Art langer Brief. Es ist vielfach besprochen worden, deswegen werde ich nicht weiter ausführen, was an ihm so großartig ist (vieles). Ich möchte lediglich dafür werben, das Buch nicht nur als ein Buch über Rassismus, über Beziehungen zwischen weißen und schwarzen Amerikanern zu lesen, sondern auch als ein Buch, das grundsätzlich gut geeignet ist, um Unterdrückungsmechanismen und vor allem die Verinnerlichten Abwertungen zu verstehen. Es geht hier um die Machtbeziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern, es macht gut verständlich, wie Unterordnung funktioniert und warum sich Menschen unterordnen (natürlich kann hier keine Rede von Freiwilligkeit sein). Lest es unbedingt, wenn ihr es noch nicht kennt.
Und wenn wir schon von Macht und Herrschaft sprechen, liegt es nah, auf dieses sehr dünne und sehr weise und sehr inspirierende Buch von Arno Gruen hinzuweisen: „Wider den Gehorsam“, gerade mal 90 Seiten lang. Pure Aufklärung. Es lässt sich vielschichtig lesen: für sich selbst, mit Blick auf eigene engere Beziehungen, mit Blick auf die eigene Prägung, mit Blick auf die uns umgebende Gesellschaft. Ich mag die unaufgeregte Sprache, die geradezu warm ist. Ich mag, dass es nicht belehrt, dass es verstehen lässt, ohne dass man sich schlecht fühlt. Ein kurzes Beispiel aus dem Text zum Thema Schuldgefühle, mit denen vor allem Kinder zu Gehorsam gedrillt werden: „Während wir ständig damit rechnen, uns schuldig fühlen zu müssen, können wir gleichzeitig die Schuld nicht bewusst aushalten, eben weil sie unseren Selbstwert untergräbt. So entstehen auch Gefühle wie Wut, Aggressivität und Gewalttätigkeit, weil wir uns minderwertig fühlen. Da Schuldgefühle als Mittel benutzt wurden, uns gefügig zu machen, können wir uns nicht durch Übernahme von Verantwortung befreien, die ein wahres Schuldgefühl uns selbst gegenüber herbeibringen würde.“ Gruen weist darauf hin, dass auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern etwas dazu beitragen können, dass die Gesellschaft friedfertiger wird (Gehorsam ist nichts Gutes, es ist ein Teil des Zerstörerischen). Ich kann dieses Buch jedem, ganz besonders aber jungen Eltern empfehlen. Mir hat es sehr geholfen, auch in der Beziehung und im Umgang mit dem eigenen Sohn.
Und nun zu sehr schwerem Stoff: „A Little Life“, „Ein wenig Leben“ oder wie es auf meinem Cover hießt „Malenkaja schisn“. Ich habe den Roman von Hanya Yanagihara auf Russisch gelesen, in der russ. Fassung ist auch ein langer Anhang zu den Hintergründen des Buches. Wer sich für Literatur interessiert, hat es entweder selbst schon gelesen oder etwas darüber gehört. Es ist ein harter Stoff über eine enge Freundschaft von vier Männern, von denen einer ein tiefes Trauma mit sich trägt und ein Leben lang an den Folgen von Missbrauch leidet. Das Buch ist – und hier ist der Anschluss zu Arno Gruen – auch eine gute Geschichte über falsche Autoritäten, Liebe als Unterdrückungswerkzeug (zumindest glaubt ein Protagonist als Kind, dass es Liebe ist, die ihm zuteilwird) und den langen und anstrengenden Kampf um Befreiung aus dem Korsett des Gehorsams. Das Buch hat aufmunternde, optimistisch stimmende Passagen, aber im Großen und Ganzen ist es ein Drama. Als ich es las, konnte ich es nicht einfach so zur Seite legen und dann einfach mal Spaß haben, es hatte mich auch ganz schön mitgenommen. Das will ich nicht verschweigen.
In Zagreb erzählte mir mal ein schreibender Journalist, das Beste an seinem Job sei, er brauche nur einen Stift und Papier. Eine Autorin, die ich sehr schätze, schrieb mal: Im Gegensatz zu Malern, Bildhauern oder anderen Künstlern, die mit Materialien arbeiteten, brauche sie nur etwas, womit und worauf sie schreiben könne. Schreibend die Welt zu erfassen und die Geschichten in ihr zu finden, ist ein Privileg. Man braucht wenig und kann doch viel ausrichten.
Ich erinnere mich daran, wie mein Vater mir mal als Kind am Beispiel eines Hammers und eines Bleistiftes erklärte, dass der Bleistift mächtiger ist. „Und mehr Geld verdienst du damit auch“, sagte er. Das mit dem Geld ist so eine Sache …, aber ich verstehe, welche Macht in Worten steckt.
Auf einer langen Recherchereise duch Russland für eine neue Geschichte las ich ein Buch, das mich noch Monate lang beschäftigte. Es war in einem russischen Verlag erschienen und beschreibt populärwissenschaftlich, wie sich die russische Geschichtsschreibung entwickelt hatte. (Autor: Artjom Efimow; Titel: „Woher haben wir es? Versuche aus drei Jahrhunderten, Russland mit dem Verstand zu begreifen“) Und hier liegt schon das Problem: Eigentlich kann man von russischer Geschichtsschreibung nicht sprechen, denn die Geisteswissenschaften – und nicht nur die – waren in Russland lange westeuropäisch geprägt. Es gab einen regen Austausch zwischen den Denkern der Zarenzeit mit Kollegen in Westeuropa. Aber mit der Idee der Nation kam irgendwann das – naiv dämliche – Bedürfnis nach etwas Eigenem. Als ob Kulturen in einem sich nie ändernden Zustand vom Himmel fallen … Deutschland weiß zu gut, wohin diese Idee führen kann.
Gefährliche Tendenzen
Russland und Europa befinden sich gerade in einem Prozess, der mich besorgt. Nationalismus gehört zum guten Ton, nationalistische Tendenzen breiten sich aus. Ähnliches passiert in Teilen Europas. Konfrontationen nehmen wieder zu. Sie sind bisher vor allem verbal, aber in der Ukraine sehen wir auch, wohin das führen kann. Was dagegen hilft, ist das Gemeinsame. Und das Buch, was ich oben erwähne, zeigt auf eine sehr gute Weise, wie viel Gemeinsames es zwischen Ost und West gibt, wie es sich beeinflusst und einander damit in der Entwicklung hilft.
In der Frankfurter Rundschau habe ich das Buch von Efimow ausführlich vorgestellt. Hier ein kurzer Auszug, darunter der Link zum vollständigen Artikel:
„Es geht … um das Bild vom anderen; das Bild, das der Westen von Russland hat, das Bild, das Russland vom Westen hat, aber auch das Bild, das Russland von sich selbst hat. Kein Bild ist klar, es ändert sich durch den jeweiligen Zeitgeist. Und das Verdienst Efimows liegt darin, dass er herausarbeitet, wie stark die russische Staatsdoktrin seit den Zeiten von Peter des Großen (1672 – 1725) mit dem eigenen Bild ringt.“
Ich war noch nie in Leipzig, und entsprechend war ich noch nie auf der Leipziger Buchmesse, die so anders sein soll als die Messe in Frankfurt. Dann schauen wir mal.
Ich darf in Leipzig am Stand des Größenwahn Verlages, bei der Industrie und Handelskammer (IHK) und auf dem Forum Literatur auf der Messe mein Buch vorstellen. Hier sind die Termine:
In Deutschland wäre sein Name Leo gewesen. In Russland hieß er Lew.
Lew war ein sehr außergewöhnlicher Mensch, ich habe ihn vor mehr als zehn Jahren für meine Magisterarbeit interviewt. Es ging dabei um Veränderungen von Erinnerungen und die Frage, ob Menschen sich schriftlich anders erinnern als mündlich. Seit unserer ersten Begegnung ließ mich dieser Mensch nicht mehr los.
Lew hat vier Jahre seines Lebens im Zweiten Weltkrieg in Nazi-Lagern verbracht, anschließend neun Jahr in einem Lager des sowjetischen Gulag-Systems. Im vergangenem Jahr (2017) bin ich in die Stadt gereist, die aus dem Lagerpunkt hervorgegangen ist: Petschora in der Republik Komi, Nordosten Russlands.
Für das Magazin FR7, das samstags immer in der Frankfurter Rundschau erscheint, habe ich darüber geschrieben. Ein Zitat aus dem Text (, den ich aus Urheberrechtsgründen hier nicht vollständig abbilden kann):
Im März 1946 erreichte Lew dünn bekleidet das verschneite „Petschorlag“ (Abkürzung von Petschora-Lager), die Stadt gab es noch nicht. Viele, die hier damals ankamen, starben bald an unbehandelten Krankheiten, oder erfroren. Lew wäre es beinahe so ergangen. „Ich musste aus dem Fluss Baumstämme holen“, hatte er erzählt. Er war klein von Wuchs und schmächtig. Er stand im eiskalten Wasser und spürte, dass er das nicht lange überleben würde. „Ich habe dem Lagerleiter gesagt, dass ich Physiker bin, dass ich im Elektrizitätswerk mehr leisten könnte.“ Er durfte wechseln. „Ich hatte Glück.“
„Glück“ hatte er auch, als seine Briefe aus dem Lager ihren Weg zu Swetlana in Moskau fanden. „Glück“ hatte er auch, als sie ihn das erste Mal besuchte. Illegal. Ein ehemaliger Häftling, der als Arbeiter außerhalb des Lagers lebte und Zugang zum Gelände hatte, schmuggelte Swetlana mit abenteuerlichen Erklärungen für die Wachen hinein. Was Lew als Glück bezeichnete, setzte sich fort, bis er seine Strafe absaß, dann illegal in Moskau lebte und schließlich nach Stalins Tod rehabilitiert wurde.
Lange habe ich Lews Worte nicht hinterfragt. Aber hier in Petschora zweifele ich an seinem „Glück“.
Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt mich immer wieder die Frage, wie Menschen solch traumatisierenden Phasen im Leben durchstehen und wie sie es schaffen, anschließend ein sinnvolles Leben zu führen, Kinder zu erziehen und das Leben zu genießen. Diese Widerstandsfähigkeit – wie entwickelt sie sich? Was ist ihre Basis?
Lew und seine Frau Swetlana haben sich Briefe geschrieben, als Lew im Petschorlag im Norden Russlands war. Der britische Historiker Orlando Figes hat einen Teil der Briefe herausgegeben, in Deutschland sind sie unter dem Titel „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ erschienen. Ich habe sie noch nicht gelesen. Vielleicht aber finden sich in ihnen Antworten auf meine Fragen …
Ich habe innerhalb weniger Tage einige Menschen getroffen, die aus voller Überzeugung Propaganda betreiben, die lügen oder schlicht auf plumpe Art fremdenfeindlich sind. Das auszuhalten half mir ein kleiner Junge namens Linus, Held der Peanuts, dem der Autor Charles M. Schulz die weisen Worte in die Sprechblase legte: „I love mankind … It’s people I can’t stand.“
Vergangene Woche war ich mit einer Gruppe deutscher und polnischer Journalistinnen und Journalisten in Moskau. Die Recherchereise beschäftigte sich mit 100-Jahre-Oktoberrevolution, ihren Auswirkungen und der Frage nach revolutionärem Potenzial im heutigen Russland.
Schon der Titel der offiziellen Ausstellung im historischen Museum am Roten Platz zeugt von einem sehr wohlwollenden Blick auf das damalige Ereignis: „Die Energie eines Traumes“ (Енергия мечты). In der Ausstellung – nicht zu groß, nicht zu differenziert – wird nur am Rande auf die repressiven Folgen der Machtübernahme durch die Bolschewiki eingegangen. Darauf angesprochen sagte die Museumsführerin: Es sei wichtig, Repressionen und den Großen Terror der 30er Jahre aufzuarbeiten, aber die Ausstellung selbst widmet sich ja nur dem Moment der Revolution.
Insgesamt verdrängt der russische Staat das Thema. Die Herren im Kreml, Urenkel der Revolution, fürchten nichts so sehr wie revolutionäres, also regimekritisches Denken.
Wir trafen auch den Vorsitzenden der russischen kommunistischen Jugendorganisation Komsomol. Für den Mann, der jünger als 40 ist, war das Ender Sowjetunion eine Konterrevolution. Die Art, wie er sprach, erinnerte mich an die Sprache alter Kommunisten. Dieser junge Mensch sprach von „richtiger“ Oppositionsarbeit, er beschrieb den Terror mit Millionen Toten unter Stalin als etwas Abstraktes, etwas Mystisches, das „hochgespült“ wurde, das quasi wie eine Flut über das Land hereinbrach. In diesem Denken feht der Mensch als Verursacher und Verantwortlicher … So lässt ich vieles rechtfertigen.
Nicht weniger verzerrend war die Darstellung des ukrainisch-russischen Konflikts einer jungen Duma-Abgeordneten der Putin-Partei Einiges Russland. Nein, in der Ukraine gebe es keine russischen Soldaten …
Zurück in Deutschland hatte ich auf einer Versammlung in einem Sportclub „Asylanten“-Witze gehört und dumme Geschichten über „Pollacken“. In meinem Kopf mischen sich diese Begegnungen und Erfahrungen von weniger als einer Woche zu einem etwas deprimierenden Bild. Am leichtesten ist für viele Menschen das Leben in der eigenen Realität. Ob sie die Wirklichkeit angemessen abbildet, das ist für viele unwichtig. Es ist zu anstrengend, sich und die eigenen Vorurteile (,die ich auch habe,) zu hinterfragen.
Am 25. November können wir übrigens gern über das Thema Vorurteile, über Fremdheitserfahrungen und auch über Russland sprechen. Ich lese aus meinem Buch in Frankfurt im Café L’Atelier des Tartes, Kleine Brückenstraße 3, ab 19 Uhr. Es wird dazu Quiche und Wein und frisch aus Russland mitgebrachten Vodka geben 😉 Wir vereinigen sozusagen Ost- und Westeuropa in einer kleinen Frankfurter Gasse.
Am Oktoberhimmel über Frankfurt ist kein Wölkchen zu sehen. Die Augen schmerzen, wenn ich hochblicke, die Sonnenstrahlen werfen harte Schatten in der neuen, alten, wiederaufgebauten Altstadt. An den Tischen des Cafés am Kunstverein am Römer ist kein Platz mehr frei. In wenigen Minuten soll ich eine Etage höher bei Open Books mein Buch vorstellen, Katharina Sperber moderiert, sie sagt: „Das Wetter ist zu gut. Die sitzen alle am Main.“
Doch dann kommen sie. Von den 70 Stühlen, die aufgestellt sind, ist mehr als die Hälfte besetzt. Drei Mal schon hatte ich zuvor auf der Buchmesse Frankfurt meinen Roman vorgestellt, am Stand des Größenwahn Verlages und am Stand der Frankfurter Rundschau, und jedes Mal lernte ich neue Menschen kennen, von denen ich Dinge erfuhr, die ich nicht wusste: dass zum Beispiel in der Deutschen Nationalbibliothek die Beschäftigten Verlage nach Buchstaben betreuen (also jemand, der für „G“ zuständig ist, sich um Bücher des Größenwahn Verlags kümmert); dass es in Detmold ein Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte gibt.
Oder Zuhörerinnen und Zuhörer sprachen mich auf ihre Erfahrungen und Beziehungen mit Russlanddeutschen an. Eine Frau am FR-Stand auf der Buchmesse sagte, ihre Patenkinder stammten aus Russland, ihnen wolle sie das Buch schenken; ein Mann, der im Kunstverein zuhörte, fragte nach der Lesung, warum seine Bekannten, Russlanddeutsche, auf Angela Merkel schimpfen würden – ein Thema, das vor der Bundestagswahl in vielen Medien behandelt wurde.
Einmal mehr überrascht es mich, welche Fragen das Buch auslöst. Eine Zuhörerin bei Open Books fragte, wie man (also die deutsche Gesellschaft) mit neuen Zuwanderern umgehen solle. Einerseits ist der Frau natürlich klar, dass es keine pauschalen Ratschläge gibt, andererseits lohnt es sich, darüber nachzudenken, was Deutschland tun kann, um den Neuankömmlingen Orientierung und Starthilfe in der Fremde zu geben.
Nicht nur aus eigener Erfahrung, sondern aus vielen Gesprächen mit Kommillitonen oder einfach nur in Begegnungen, weiß ich, dass Menschen, die in autoritären Gesellschaften aufgewachsen sind, häufig Schwierigkeiten haben, selbstständig und selbstverantwortlich zu handeln. Autokraten und Diktatoren brauchen folgsame Untertanen. Entsprechend ist die Bildung und Erziehung in solchen Gesellschaften auf Gehorsam ausgelegt. Die Oberen, und seien es nur Eltern und Erzieher, infrage zu stellen, mit ihnen zu diskutieren – das widerspricht solchen Gesellschaftskulturen.
Die Flüchtlinge, die in den vergangenen zwei Jahren nach Deutschland kamen, stammen aus solchen Gesellschaften. Nun lautet die zentrale Frage: Wie helfen wir ihnen (und damit auch uns), sich hier zurechtzufinden und ermuntern sie zugleich, mehr Selbstständigkeit und Selbstverantwortung zu wagen?
Die Antwort ist komplex, aber: Deutschland hat Erfahrung mit diesem Thema. Denn was 1989/1990 geschah, war nichts anderes, als dass sehr viele Menschen aus Ost-Deutschland quasi in eine neue, westliche, individualistische Gesellschaft kulturell einwanderten. Sie hatten auch keine Wahl. Vieles lief damals nicht gut. Es gab zu viel Arroganz im Westen (Systemsieger); und im Osten waren viele nach der ersten positiven Aufregung geschockt, denn was gestern noch als richtig galt, wurde heute für falsch erklärt. Gefühlschaos, Fremdheitserfahrungen im eigenen Betrieb, im eigenen Dorf, in der eigenen Stadt folgten. Wer es nicht selbst erlebt hat, wird Mühe haben, das emotionale Drama nachzuvollziehen, das viele durchmachten.
Wiederholen wir die Fehler der 90er Jahre?
Nun sind schon 27 Jahre vergangen, aber angesichts der Wahlerfolge autoritäterer Rechter wie der AfD, müsste klar sein, dass diese Zeitspanne für einen Mentalitätswandel bei vielen nicht reicht. Ich habe nach der Niedersachsenwahl vor wenigen Tagen nachgeschaut, wie in dem Wolfsburger Stadtteil Westhagen die Ergebnisse ausfielen. Ich habe in diesem Stadtteil (Klein-Moskau) die ersten zweieinhalb Jahre in Deutschland verbracht. Hier lebten damals schon und leben heute immer noch sehr viele Spätaussiedler. Hier hat die AfD besonders viele Stimmen bekommen.
Wenn wir angesichts neuer Zuwanderer die alten Fehler nicht wiederholen wollen, brauchen wir staatlicherseits mehr Anstrengungen für aktive Integrationshilfe. Obwohl bei der jüngsten Zuwanderung seit 2015 vieles besser läuft als vor 27 Jahren, geschieht noch zu wenig. Was dieses Mal besser läuft, wird oft von vielen Ehrenamtlichen geleistet. Deren Deutschkurse, ihre Unterstützung bei Behördenkommunikation, ihre Erklärungen bei Arztbesuchen, Vermittlungen in Kindergärten und Nachhilfen für die Kinder – das ist unermesslich wertvoll. Und doch zu wenig.
Die Zuhörerin bei Open Books, die gefragt hatte, was wir tun können, um Neuankömmlingen zu helfen, hatte eine sehr berechtigte Frage.
Ich möchte hier ausdrücklich Katharina Sperber für ihre Moderation bei Open Books und der FR-Chefredakteurin Bascha Mika für die Vorstellung meines Romans am FR-Stand der Buchmesse danken. Ohne ihre Fragen wären die Lesungen nur halb so interessant ausgefallen. Herzlichen Dank.