Mein Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ handelt von einigen Menschen, die in für uns kaum vorstellbar schrecklichen Umständen ein erfülltes Leben gelebt haben. Ich habe von diesen Menschen sehr viel gelernt und bin sehr dankbar, ihnen begegnet zu sein. Und der Roman versucht auch einen Ausschnitt aus der Geschichte eines sehr komplizierten Landes zu erzählen, dessen Gegenwart immer stärker an seine dunkle Vergangenheit erinnert.
Im Oktober 2017 eröffnete der russische Präsident in Moskau ein Denkmal für die Opfer des sowjetischen Straflagersystems, das auch im Westen unter dem Akronym GULAG bekannt geworden ist. Gulag steht für glawnoje uprawlenije lagerei – Lagerhauptverwaltung.
Dass ein Zögling eben jener Institution, die für den Aufbau des Lagersystems wie für die Repression der Opfer zuständig war, das Denkmal „Wand der Trauer“ einweihte, war zwar etwas Besonderes, wichtiger war aber, was Wladimir Putin sagte. Genauer: was er nicht sagte (Link russ).
In seiner Rede sprach der Tschekist* von den Verbrechen, die nicht vergessen werden dürften. Er nannte aber zu keinem Zeitpunkt die Täter, sagte nichts zur Verantwortung des Staates oder Institutionen oder Individuen, warnte gar vor einer „Aufrechnerei“. Als ob etwas über die Menschen damals gekommen sei, wie eine unlenkbare Kraft.
Auf diese Weise lehnte er jegliche Verantwortung des Staates oder des sowjetischen Geheimdienstes für die Verbrechen ab. Übriges: Die gleiche Argumentationsstrategie bemüht das russ. Regime auch heute und rechtfertigt seinen verbrecherischen Überfall auf die Ukraine.
Nur kurze Phase der kritischen Aufarbeitung
Es gab in der Geschichte Russlands nur eine kurze Zeitspanne der kritischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, sie begann Ende der 1980er Jahre unter Gorbatschow, wurde unter Putin Stück für Stück eingeschränkt und schließlich mit dem faktischen Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021 ganz unmöglich gemacht.
Als ich an „Wir verstehen nicht, was geschieht“ zu schreiben begann, gab es bereits Einschränkungen für alle, die Vergangenheit so zu sehen versuchten, wie sie war und nicht, wie sie sich jemand idealisierend vorstellte. Ein neues Datenschutzgesetzt erschwert den Zugang zu Dokumenten in den staatlichen Archiven. Die Mitarbeiterinnen im Museum für Heimatkunde in Petschora, einer Stadt, die ihre Entstehung einem Straflager „verdankt“, erklärten wie das Gesetz funktioniert: