Die Reise nach Petschora

Erschienen im Verbrecher Verlag 08/2022.

Mein Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ handelt von einigen Menschen, die in für uns kaum vorstellbar schrecklichen Umständen ein erfülltes Leben gelebt haben. Ich habe von diesen Menschen sehr viel gelernt und bin sehr dankbar, ihnen begegnet zu sein. Und der Roman versucht auch einen Ausschnitt aus der Geschichte eines sehr komplizierten Landes zu erzählen, dessen Gegenwart immer stärker an seine dunkle Vergangenheit erinnert.

Im Oktober 2017 eröffnete der russische Präsident in Moskau ein Denkmal für die Opfer des sowjetischen Straflagersystems, das auch im Westen unter dem Akronym GULAG bekannt geworden ist. Gulag steht für glawnoje uprawlenije lagerei – Lagerhauptverwaltung.

Dass ein Zögling eben jener Institution, die für den Aufbau des Lagersystems wie für die Repression der Opfer zuständig war, das Denkmal „Wand der Trauer“ einweihte, war zwar etwas Besonderes, wichtiger war aber, was Wladimir Putin sagte. Genauer: was er nicht sagte (Link russ).

In seiner Rede sprach der Tschekist* von den Verbrechen, die nicht vergessen werden dürften. Er nannte aber zu keinem Zeitpunkt die Täter, sagte nichts zur Verantwortung des Staates oder Institutionen oder Individuen, warnte gar vor einer „Aufrechnerei“. Als ob etwas über die Menschen damals gekommen sei, wie eine unlenkbare Kraft.

Auf diese Weise lehnte er jegliche Verantwortung des Staates oder des sowjetischen Geheimdienstes für die Verbrechen ab. Übriges: Die gleiche Argumentationsstrategie bemüht das russ. Regime auch heute und rechtfertigt seinen verbrecherischen Überfall auf die Ukraine.

Nur kurze Phase der kritischen Aufarbeitung

Es gab in der Geschichte Russlands nur eine kurze Zeitspanne der kritischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, sie begann Ende der 1980er Jahre unter Gorbatschow, wurde unter Putin Stück für Stück eingeschränkt und schließlich mit dem faktischen Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021 ganz unmöglich gemacht.

Als ich an „Wir verstehen nicht, was geschieht“ zu schreiben begann, gab es bereits Einschränkungen für alle, die Vergangenheit so zu sehen versuchten, wie sie war und nicht, wie sie sich jemand idealisierend vorstellte. Ein neues Datenschutzgesetzt erschwert den Zugang zu Dokumenten in den staatlichen Archiven. Die Mitarbeiterinnen im Museum für Heimatkunde in Petschora, einer Stadt, die ihre Entstehung einem Straflager „verdankt“, erklärten wie das Gesetz funktioniert:

Über Lew und Swetlana

Auf dem Bild sind drei Menschen zu seine, ein älteres Paar und eine Frau. Das Paar sitzt, die Frau steht hinter ihnen. Sie ist ihre Tochter. Der Mann streichelt die Schnauze eines Hundes. Das Bild ist schwarzweiß, es wurde in Moskau im Winter 2004 aufgenommen.
Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)

Lange Zeit fand ich nicht die richtigen Worte, um diese Geschichte zu erzählen, die Geschichte über Lew und Swetlana. Und ob die gefundenen Worte nun die richtigen sind, kann ich nicht beurteilen, eines Tages fing ich einfach an zu schreiben, und es schrieb sich dann weiter (um einen Ausdruck aus dem Russischen zu übernehmen). Der Roman über das Leben von Lew und Swetlana erscheint nun unter dem Titel „Wir verstehen nicht, was geschieht“ im Spätsommer im Verbrecher Verlag.

(An diesen älteren Post war eine Leseprobe aus dem Manuskript angeheftet, die ich entfernt habe. Der Text hat sich seitdem weiterentwickelt, der Titel des Buches wird ein anderer als der Arbeitstitel sein.)

Lange habe ich mich gefragt, warum mich ihre Geschichte nicht loslässt und warum es mir so schwerfällt, sie zu erzählen. Ein Paar lernt sich kennen, lernt sich lieben … und wird durch den Zweiten Weltkrieg auseinandergerissen. Millionen Menschen in der Sowjetunion erging es ebenso. Im Fall von Lew und Swetlana kommt noch hinzu, dass Lews Eltern vor dem Krieg von den neuen, kommunistischen Machthabern ermordet wurden und er nach dem Krieg weiter politisch verfolgt wurde.

Fast 14 Jahre mussten die beiden darauf warten, dass sie eine gemeinsame Zukunft aufbauen konnten; einige Jahre wussten sie noch nicht einmal, ob der Partner/die Partnerin überhaupt noch lebt. Und von irgendwoher nahmen sie immer wieder die Kraft, weiterzumachen.

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Die anderen in uns

Dilek Güngör und ich waren nach unserer ersten Doppellesung sehr überrascht, wie gut das Format ankam: Dileks Buch („Ich bin Özlem“) und mein Buch handeln von ähnlichen Erfahrungen sehr unterschiedlicher Menschen. Und wir wollten das Verbindende im Unterschiedlichen offenlegen. Wie ergeht es Özlem, der Tochter von aus der Türkei eingewanderten Eltern, und was haben sie und der russlanddeutsche Protagonist aus dem „Bienenstich“ gemeinsam?

Wir müssen uns nichts vormachen: Viele Überschneidungen im privaten Leben gibt es zwischen den Gruppen der Russlanddeutschen und den Gastarbeiter:innen oder ihren Nachkommen im Alltag oft nicht. Und genau hier wollten wir ansetzen und zeigen, dass es viele Berührungspunkt zu entdecken gibt, wenn man nur miteinander spricht und die eigenen Erfahrungen als Migrant:in in Deutschland teilt.

Ich bin mir sicher, dass diese Ähnlichkeiten auch bei anderen Gruppen zu finden sind, vielleicht ganz grundsätzlich sogar bei allen Menschen – so unterschiedlich wir alle sind.

Vor dem damals ersten Termin in Mannheim (25.11.2019) habe ich diesen Text hier geschrieben:

„… Ich ringe mit Bildern und Gefühlen, die mich unerwartet überfluten, ich höre die Stimme meiner Großmutter, die weint und auf sich schimpft, wie „dumm“ sie sei, wie „ungebildet“ und dass wir, ihre Enkel, „lernen“ sollen, „lernen, lernen, ihr müsst lernen, dass ihr nicht so dumm sterbt wie mir“. Sie sagte immer „mir“ statt wir. Und sie klagte so an dem Tag, an dem mein Großvater gestorben war, nach 49 Jahren gemeinsamer Zeit. …“ ZUM TEXT

 Dilek schrieb:

„… Man könnte meinen, dieses Extralob, dieses Herausgehobenwerden vor der Klasse mache Kinder stolz und stark. Es machte mich nicht stolz und stark. Es lehrte mich, dass meine Herkunft etwas war, was groß und klotzig in meinem Leben stand und immerzu erwähnt und erklärt werden musste. Es machte mich hellhörig für das Aber, das Eigentlich, das Normalerweise. …“ ZUM TEXT

Nach der damaligen Lesung kamen gleich mehrere Anfragen für weitere Termine, doch die fielen Corona-bedingt aus. Umso schöner war es, dass wir im Dezember 2020 dann wieder so eine Doppellesung digital abhalten konnten, davon gibt es auch ein Video*:

Und es geht weiter: Für dieses Jahr gibt es bereits mehrere Anfragen, wir haben einige Termine im Doppelformat (schreibe ich unter Termine, sobald sie fix sind).

In der Identitätsdebatte wird oft gesagt, sie spalte. Ich denke eher, dass wir besser in der Lage sind, das Gemeinsame zu sehen, je bewusster wir unserer selbst sind. Wenn ich weiß, wer ich bin und wie mein Ich entsteht, dann fürchte ich mich weniger vor den anderen und vor Veränderungen. Wahrscheinlich wird es aber noch lange dauern, bis wir diese Diskussion ruhiger führen können, es sind zu viele Verletzungen im Spiel, zu viel Bewegung in den gesellschaftlichen Strukturen, auch zu starke Machtverschiebungen. Und so etwas läuft nie stressfrei ab. Weniger verbissen, weniger verletzend und weniger verhärtend können solche Debatten aber sein. Auch das ist die Idee hinter den Lesungen von Dilek und mir.

* Die Veranstaltung war eine Kooperation des Interkulturellen Zentrums Heidelberg mit dem Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold.

Vom Überleben

Lew und Swetlana. Stehend ihre Tochter Nastja und im Vordergrund Primus (auch er kommt in der Geschichte vor).

Wahrscheinlich haben wir eine falsche Vorstellung davon, wie und warum Menschen Repressionen, Gewalt und Folter überstehen. Das Hollywood-Bild von solchen Menschen zeigt meist harte Helden. Aber es spricht einiges dafür, dass Menschen – im besten Sinne – weich, fühlend und mitfühlend sein müssen, um brutalste Bedingungen einigermaßen gesund durchzuhalten. Arno Gruen schreibt in „Der Kampf um Demokratie“: „Auch DesPres‘ Studie über die Überlebenden der Todeslager zeigte, daß nur jene eine Überlebenschance hatten, die ihr Mitgefühl nie verloren.“ Als ich das las, machte es Klick und ich musste an Lew und Swetlana denken.

Wie überlebt ein Mensch all das, was die beiden überlebt haben, wie verarbeitet ein Mensch traumatische Erfahrungen? Ich habe diese Frage viele Jahre mit mir herumgetragen. An eine Antwort habe ich mich durch die wahre Geschichte von Lew und Swetlana angenähert, einem außergewöhnlichen Paar aus Moskau, das zwei Kriege, Repressionen, Verfolgungen und Demütigungen überstanden hat.

(Hier war bis Juni 2022 ein Textauszug zu lesen, ich habe ihn entfernt, weil er sich verändert hat. Das Buch über diese besonderen Menschen wird im Spätsommer 2022 erscheinen: „Wir verstehen nicht, was geschieht“, Verbrecher Verlag.)

Was lesen?

Die folgenden Bücher haben mich alle sehr berührt und etwas in mir bewegt, so dass ich sie gerne empfehlen und kurz vorstellen möchte. Eine innere Verbindung zwischen den Büchern erkenne ich nicht, die Psychoanalytiker unter euch sind aber frei, mir die Deutungen dazu zukommen zu lassen.

 

Los geht’s mit dem schwersten und schönsten Buch: „Castros Kuba“ von Lee Lockwood. Der Autor dieses Bildbandes ist Journalist, er hatte als einer von wenigen westlichen Journalisten die Gelegenheit, längere Zeit mit Fidel Castro zu verbringen und ihn über die junge nachrevolutionäre kubanische Gesellschaft zu interviewen. Da ich selbst in der Sowjetunion geboren und den Kalten Krieg aus beiden Perspektiven kennengelernt habe (der tiefere Blick war natürlich nur rückwirkend möglich) fand ich an diesem Buch, dessen Text im Jahr 1967 entstanden war, die Voraussicht sehr faszinierend. Lockwood hatte sehr früh erkannt und gesehen, in welche Richtung sich Kuba entwickeln würde, wenn die USA es als Feind betrachtet würden. Dieses Buch lehrt, wie Konflikte zwischen Staaten entstehen, und es könnte helfen, die Muster solcher Konflikte in ihrer frühen Entwicklung zu begreifen und vielleicht den Lauf der Geschichte positiv zu wenden. Für alle, die sich für Kuba, Fotografie und internationale Beziehungen interessieren, ist das Buch ein Gewinn. Ich habe den Band für die Frankfurter Rundschau besprochen.

„Der König der Favelas“ von Misha Glenny – ein Thriller, ein Krimi, ein Dokument für desaströse Sozialpolitik und was aus ihr folgt. Vor dem Buch hatte ich ein Interview mit Glenny gelesen, das mir sympathisch war. Ich kenne keine weiteren Arbeiten dieses britischen Journalisten und weiß nicht, wie er grundsätzlich tickt. Was mir aber am Buch gefällt, ist die Verknüpfung von Kriminalität und sozialer Politik, die Herausarbeitung der gegenseitigen Beeinflussung und das Offenlegen von einem grundsätzlichen Problem: Kluge Sozialpolitik, die destruktive Milieus aufbricht, ohne die Menschen zu entwerten und zu töten (ja, zu töten), braucht kluge, empathische Entscheider und staatliche Institutionen, die diese Politik umsetzen können. Auch dieses Buch habe ich für die FR rezensiert.

Und nun ein Roman mit einem fast schon schmerzhaft vorausschauenden Blick: „Der letzte Kampf des Kapitän Ni’mat“, der Autor Mohamed Leftah war ein aus Marokko stammender Intellektueller, der lange in Paris gelebt hatte. Er starb 2008 in Kairo. Sein Buch handelt einerseits von einem elitären Zirkel alter Militärs in Ägypten und andererseits von der religiösen Radikalisierung der ägyptischen Gesellschaft. Es ist einerseits die Geschichte eines alternden Militärs, der seine Homosexualität entdeckt (dann folgen private Dramen), und es ist andererseits die Geschichte eines Landes, in dem innerhalb einer Diktatur eine andere radikale Bewegung entsteht. Ich habe das Buch mehrere Jahre nach dem rasch verblühten Arabischen Frühling gelesen, und beim Lesen des Buches dachte ich: „Scheiße, die ganze demokratische Revolution hatte nie eine Chance, ihr Scheitern war unvermeidbar.“ Literatur, die eine Gesellschaft so tief erfassen kann, ist für mich große Literatur. Das Buch ist hier erhältlich. (Es erschien im selben Verlag wie mein Buch, das nur für die Transparenz.)

„Mein Sohn, …“ Das sind die ersten Worte des Buches „Zwischen mir und der Welt“ von Ta-Nehisi Coates. Das Buch ist ein Art langer Brief. Es ist vielfach besprochen worden, deswegen werde ich nicht weiter ausführen, was an ihm so großartig ist (vieles). Ich möchte lediglich dafür werben, das Buch nicht nur als ein Buch über Rassismus, über Beziehungen zwischen weißen und schwarzen Amerikanern zu lesen, sondern auch als ein Buch, das grundsätzlich gut geeignet ist, um Unterdrückungsmechanismen und vor allem die Verinnerlichten Abwertungen zu verstehen. Es geht hier um die Machtbeziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern, es macht gut verständlich, wie Unterordnung funktioniert und warum sich Menschen unterordnen (natürlich kann hier keine Rede von Freiwilligkeit sein). Lest es unbedingt, wenn ihr es noch nicht kennt.

Und wenn wir schon von Macht und Herrschaft sprechen, liegt es nah, auf dieses sehr dünne und sehr weise und sehr inspirierende Buch von Arno Gruen hinzuweisen: „Wider den Gehorsam“, gerade mal 90 Seiten lang. Pure Aufklärung. Es lässt sich vielschichtig lesen: für sich selbst, mit Blick auf eigene engere Beziehungen, mit Blick auf die eigene Prägung, mit Blick auf die uns umgebende Gesellschaft. Ich mag die unaufgeregte Sprache, die geradezu warm ist. Ich mag, dass es nicht belehrt, dass es verstehen lässt, ohne dass man sich schlecht fühlt. Ein kurzes Beispiel aus dem Text zum Thema Schuldgefühle, mit denen vor allem Kinder zu Gehorsam gedrillt werden: „Während wir ständig damit rechnen, uns schuldig fühlen zu müssen, können wir gleichzeitig die Schuld nicht bewusst aushalten, eben weil sie unseren Selbstwert untergräbt. So entstehen auch Gefühle wie Wut, Aggressivität und Gewalttätigkeit, weil wir uns minderwertig fühlen. Da Schuldgefühle als Mittel benutzt wurden, uns gefügig zu machen, können wir uns nicht durch Übernahme von Verantwortung befreien, die ein wahres Schuldgefühl uns selbst gegenüber herbeibringen würde.“ Gruen weist darauf hin, dass auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern etwas dazu beitragen können, dass die Gesellschaft friedfertiger wird (Gehorsam ist nichts Gutes, es ist ein Teil des Zerstörerischen). Ich kann dieses Buch jedem, ganz besonders aber jungen Eltern empfehlen. Mir hat es sehr geholfen, auch in der Beziehung und im Umgang mit dem eigenen Sohn.

Und nun zu sehr schwerem Stoff: „A Little Life“, „Ein wenig Leben“ oder wie es auf meinem Cover hießt „Malenkaja schisn“. Ich habe den Roman von Hanya Yanagihara auf Russisch gelesen, in der russ. Fassung ist auch ein langer Anhang zu den Hintergründen des Buches. Wer sich für Literatur interessiert, hat es entweder selbst schon gelesen oder etwas darüber gehört. Es ist ein harter Stoff über eine enge Freundschaft von vier Männern, von denen einer ein tiefes Trauma mit sich trägt und ein Leben lang an den Folgen von Missbrauch leidet. Das Buch ist – und hier ist der Anschluss zu Arno Gruen – auch eine gute Geschichte über falsche Autoritäten, Liebe als Unterdrückungswerkzeug (zumindest glaubt ein Protagonist als Kind, dass es Liebe ist, die ihm zuteilwird) und den langen und anstrengenden Kampf um Befreiung aus dem Korsett des Gehorsams. Das Buch hat aufmunternde, optimistisch stimmende Passagen, aber im Großen und Ganzen ist es ein Drama. Als ich es las, konnte ich es nicht einfach so zur Seite legen und dann einfach mal Spaß haben, es hatte mich auch ganz schön mitgenommen. Das will ich nicht verschweigen.

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Am Ende des Textes wird es fröhlicher

Bild aus der Ausstellung „Die Energie eines Traumes“ im historischen Museum in Moskau.

Ich habe innerhalb weniger Tage einige Menschen getroffen, die aus voller Überzeugung Propaganda betreiben, die lügen oder schlicht auf plumpe Art fremdenfeindlich sind. Das auszuhalten half mir ein kleiner Junge namens Linus, Held der Peanuts, dem der Autor Charles M. Schulz die weisen Worte in die Sprechblase legte: „I love mankind … It’s people I can’t stand.“

Vergangene Woche war ich mit einer Gruppe deutscher und polnischer Journalistinnen und Journalisten in Moskau. Die Recherchereise beschäftigte sich mit 100-Jahre-Oktoberrevolution, ihren Auswirkungen und der Frage nach revolutionärem Potenzial im heutigen Russland.

Schon der Titel der offiziellen Ausstellung im historischen Museum am Roten Platz zeugt von einem sehr wohlwollenden Blick auf das damalige Ereignis: „Die Energie eines Traumes“ (Енергия мечты). In der Ausstellung – nicht zu groß, nicht zu differenziert – wird nur am Rande auf die repressiven Folgen der Machtübernahme durch die Bolschewiki eingegangen. Darauf angesprochen sagte die Museumsführerin: Es sei wichtig, Repressionen und den Großen Terror der 30er Jahre aufzuarbeiten, aber die Ausstellung selbst widmet sich ja nur dem Moment der Revolution.

Insgesamt verdrängt der russische Staat das Thema. Die Herren im Kreml, Urenkel der Revolution, fürchten nichts so sehr wie revolutionäres, also regimekritisches Denken.

Der Kreml und die Basilius-Kathedrale beim Sonnenaufgang.

Wir trafen auch den Vorsitzenden der russischen kommunistischen Jugendorganisation  Komsomol. Für den Mann, der jünger als 40 ist, war das Ender Sowjetunion eine Konterrevolution. Die Art, wie er sprach, erinnerte mich an die Sprache alter Kommunisten. Dieser junge Mensch sprach von „richtiger“ Oppositionsarbeit, er beschrieb den Terror mit Millionen Toten unter Stalin als etwas Abstraktes, etwas Mystisches, das „hochgespült“ wurde, das quasi wie eine Flut über das Land hereinbrach. In diesem Denken feht der Mensch als Verursacher und Verantwortlicher  … So lässt ich vieles rechtfertigen.

Nicht weniger verzerrend war die Darstellung des ukrainisch-russischen Konflikts einer jungen Duma-Abgeordneten der Putin-Partei Einiges Russland. Nein, in der Ukraine gebe es keine russischen Soldaten …

Zurück in Deutschland hatte ich auf einer Versammlung in einem Sportclub „Asylanten“-Witze gehört und dumme Geschichten über „Pollacken“. In meinem Kopf mischen sich diese Begegnungen und Erfahrungen von weniger als einer Woche zu einem etwas deprimierenden Bild. Am leichtesten ist für viele Menschen das Leben in der eigenen Realität. Ob sie die Wirklichkeit angemessen abbildet, das ist für viele unwichtig. Es ist zu anstrengend, sich und die eigenen Vorurteile (,die ich auch habe,) zu hinterfragen.

Am 25. November können wir übrigens gern über das Thema Vorurteile, über Fremdheitserfahrungen und auch über Russland sprechen. Ich lese aus meinem Buch in Frankfurt im Café L’Atelier des Tartes, Kleine Brückenstraße 3, ab 19 Uhr. Es wird dazu Quiche und Wein und frisch aus Russland mitgebrachten Vodka geben 😉 Wir vereinigen sozusagen Ost- und Westeuropa in einer kleinen Frankfurter Gasse.

Wollt Ihr das verpassen?

 

 

Die Gedanken der Anderen

Mich überrascht die Bandbreite der Gedanken, die mein Buch bei Leserinnen und Lesern anscheinend auslöst. Eine Leserin erwähnte in einer E-Mail ihre hugenottischen Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert: „Die Ahnentafel ist von Flucht und Vertreibung geprägt. Die Wurzeln liegen bei den Hugenotten.“ Ein Freund, den ich schon viele Jahre nicht gesehen habe, sagte: „Dieses Thema mit den Rollen, wann und in welchen Situationen bin ich wer – das beschäftigt mich auch.“ Und eine Kollegin berichtete mir von ihrer Familie und deren Geschichte, die eines Tages hoffentlich in einem Buch nachzulesen sein wird.

Die nachkriegsvertriebenen Deutschen, fremdenfeindliche Aussiedler, oder einfach Interesse an Russland – darauf wurde ich angesprochen. Wie gesagt, die Vielfalt der Themen überrascht mich und es freut mich zugleich, dass die Geschichte von A., Marie und Mark bei den Leserinnen und Lesern Gefühle weckt und eine Verbindung zu deren eigenem Leben, zu der Geschichte der eigenen Familie entstehen lässt.

Eine erste Rezension kommt von Sascha Pommrenke auf seinem Blog: koreander.net Ein Zitat daraus: „Die Liebe zu Marie stellt A. auf eine harte Probe. Alles was bisher Gewiss war, wird plötzlich in Frage gestellt. Kann man sich als Migrant wirklich als Deutscher fühlen? Wieviel Erinnerung an die Heimat, wieviel Tradition darf man dann noch leben? In den Augen von Marie ist A.s Überangepasstheit geradezu ein Verrat an seine Herkunft. A. gerät in einen Strudel, ein Kampf mit sich selbst und mit Marie. Ein Kampf um Sinn, Liebe und Identität. Ein Kampf, den keiner gewinnen kann und den man dennoch kämpfen muss.“ Die gesamte Rezension und ein wunderbares Lied, das eingeklinkt wurde: hier.

Wenn alles gut geht, kann ich bald eine interessante Neuigkeit im Zusammenhang mit der Buchmesse in Frankfurt verkünden. Ich muss mich noch etwas gedulden, das kann ich am besten am Wasser.

 

Danke!

Am Ende der Lesung steht eine Frau auf und sagt: „Ich würde mir gern von einem in Deutschland geborenen schwarzen Menschen erklären lassen, warum es schlimm für manche ist, wenn man fragt, woher sie kommen.“ Stille im Publikum, es ist kein schwarzer Mensch da.

„Puh, ich bin’s zwar nicht, aber vielleicht kann ich’s ja versuchen“, sage ich. Etwa 70 Gäste sitzen bei der Premierelesung meines Romans im Wintergarten in der Varrentrappstraße 53 in Frankfurt, wo der Größenwahn Verlag beheimatet ist. Es gab Bienenstich zum Empfang und nach der Lesung internationales Essen und Wein. Die Fragen aus dem Publikum drehen sich um Kultur: „Was verstehen Sie darunter?“, Integration: „Es ist doch etwas, das nicht nur die Ankommenden betrifft?“, oder mit direktem Bezug zum Buch, das autobiografische Momente enthält: „War es tatsächlich so passiert?“ Danke! weiterlesen