Dilek Güngör und ich waren nach unserer ersten Doppellesung sehr überrascht, wie gut das Format ankam: Dileks Buch („Ich bin Özlem“) und mein Buch handeln von ähnlichen Erfahrungen sehr unterschiedlicher Menschen. Und wir wollten das Verbindende im Unterschiedlichen offenlegen. Wie ergeht es Özlem, der Tochter von aus der Türkei eingewanderten Eltern, und was haben sie und der russlanddeutsche Protagonist aus dem „Bienenstich“ gemeinsam?
Wir müssen uns nichts vormachen: Viele Überschneidungen im privaten Leben gibt es zwischen den Gruppen der Russlanddeutschen und den Gastarbeiter:innen oder ihren Nachkommen im Alltag oft nicht. Und genau hier wollten wir ansetzen und zeigen, dass es viele Berührungspunkt zu entdecken gibt, wenn man nur miteinander spricht und die eigenen Erfahrungen als Migrant:in in Deutschland teilt.
Ich bin mir sicher, dass diese Ähnlichkeiten auch bei anderen Gruppen zu finden sind, vielleicht ganz grundsätzlich sogar bei allen Menschen – so unterschiedlich wir alle sind.
Vor dem damals ersten Termin in Mannheim (25.11.2019) habe ich diesen Text hier geschrieben:
„… Ich ringe mit Bildern und Gefühlen, die mich unerwartet überfluten, ich höre die Stimme meiner Großmutter, die weint und auf sich schimpft, wie „dumm“ sie sei, wie „ungebildet“ und dass wir, ihre Enkel, „lernen“ sollen, „lernen, lernen, ihr müsst lernen, dass ihr nicht so dumm sterbt wie mir“. Sie sagte immer „mir“ statt wir. Und sie klagte so an dem Tag, an dem mein Großvater gestorben war, nach 49 Jahren gemeinsamer Zeit. …“ ZUM TEXT
Dilek schrieb:
„… Man könnte meinen, dieses Extralob, dieses Herausgehobenwerden vor der Klasse mache Kinder stolz und stark. Es machte mich nicht stolz und stark. Es lehrte mich, dass meine Herkunft etwas war, was groß und klotzig in meinem Leben stand und immerzu erwähnt und erklärt werden musste. Es machte mich hellhörig für das Aber, das Eigentlich, das Normalerweise. …“ ZUM TEXT
Nach der damaligen Lesung kamen gleich mehrere Anfragen für weitere Termine, doch die fielen Corona-bedingt aus. Umso schöner war es, dass wir im Dezember 2020 dann wieder so eine Doppellesung digital abhalten konnten, davon gibt es auch ein Video*:
Und es geht weiter: Für dieses Jahr gibt es bereits mehrere Anfragen, wir haben einige Termine im Doppelformat (schreibe ich unter Termine, sobald sie fix sind).
In der Identitätsdebatte wird oft gesagt, sie spalte. Ich denke eher, dass wir besser in der Lage sind, das Gemeinsame zu sehen, je bewusster wir unserer selbst sind. Wenn ich weiß, wer ich bin und wie mein Ich entsteht, dann fürchte ich mich weniger vor den anderen und vor Veränderungen. Wahrscheinlich wird es aber noch lange dauern, bis wir diese Diskussion ruhiger führen können, es sind zu viele Verletzungen im Spiel, zu viel Bewegung in den gesellschaftlichen Strukturen, auch zu starke Machtverschiebungen. Und so etwas läuft nie stressfrei ab. Weniger verbissen, weniger verletzend und weniger verhärtend können solche Debatten aber sein. Auch das ist die Idee hinter den Lesungen von Dilek und mir.
* Die Veranstaltung war eine Kooperation des Interkulturellen Zentrums Heidelberg mit dem Kulturreferat für Russlanddeutsche am Museum für Russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold.