Die Reise nach Petschora

Erschienen im Verbrecher Verlag 08/2022.

Mein Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ handelt von einigen Menschen, die in für uns kaum vorstellbar schrecklichen Umständen ein erfülltes Leben gelebt haben. Ich habe von diesen Menschen sehr viel gelernt und bin sehr dankbar, ihnen begegnet zu sein. Und der Roman versucht auch einen Ausschnitt aus der Geschichte eines sehr komplizierten Landes zu erzählen, dessen Gegenwart immer stärker an seine dunkle Vergangenheit erinnert.

Im Oktober 2017 eröffnete der russische Präsident in Moskau ein Denkmal für die Opfer des sowjetischen Straflagersystems, das auch im Westen unter dem Akronym GULAG bekannt geworden ist. Gulag steht für glawnoje uprawlenije lagerei – Lagerhauptverwaltung.

Dass ein Zögling eben jener Institution, die für den Aufbau des Lagersystems wie für die Repression der Opfer zuständig war, das Denkmal „Wand der Trauer“ einweihte, war zwar etwas Besonderes, wichtiger war aber, was Wladimir Putin sagte. Genauer: was er nicht sagte (Link russ).

In seiner Rede sprach der Tschekist* von den Verbrechen, die nicht vergessen werden dürften. Er nannte aber zu keinem Zeitpunkt die Täter, sagte nichts zur Verantwortung des Staates oder Institutionen oder Individuen, warnte gar vor einer „Aufrechnerei“. Als ob etwas über die Menschen damals gekommen sei, wie eine unlenkbare Kraft.

Auf diese Weise lehnte er jegliche Verantwortung des Staates oder des sowjetischen Geheimdienstes für die Verbrechen ab. Übriges: Die gleiche Argumentationsstrategie bemüht das russ. Regime auch heute und rechtfertigt seinen verbrecherischen Überfall auf die Ukraine.

Nur kurze Phase der kritischen Aufarbeitung

Es gab in der Geschichte Russlands nur eine kurze Zeitspanne der kritischen Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, sie begann Ende der 1980er Jahre unter Gorbatschow, wurde unter Putin Stück für Stück eingeschränkt und schließlich mit dem faktischen Verbot der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021 ganz unmöglich gemacht.

Als ich an „Wir verstehen nicht, was geschieht“ zu schreiben begann, gab es bereits Einschränkungen für alle, die Vergangenheit so zu sehen versuchten, wie sie war und nicht, wie sie sich jemand idealisierend vorstellte. Ein neues Datenschutzgesetzt erschwert den Zugang zu Dokumenten in den staatlichen Archiven. Die Mitarbeiterinnen im Museum für Heimatkunde in Petschora, einer Stadt, die ihre Entstehung einem Straflager „verdankt“, erklärten wie das Gesetz funktioniert:

Vom Überleben

Lew und Swetlana. Stehend ihre Tochter Nastja und im Vordergrund Primus (auch er kommt in der Geschichte vor).

Wahrscheinlich haben wir eine falsche Vorstellung davon, wie und warum Menschen Repressionen, Gewalt und Folter überstehen. Das Hollywood-Bild von solchen Menschen zeigt meist harte Helden. Aber es spricht einiges dafür, dass Menschen – im besten Sinne – weich, fühlend und mitfühlend sein müssen, um brutalste Bedingungen einigermaßen gesund durchzuhalten. Arno Gruen schreibt in „Der Kampf um Demokratie“: „Auch DesPres‘ Studie über die Überlebenden der Todeslager zeigte, daß nur jene eine Überlebenschance hatten, die ihr Mitgefühl nie verloren.“ Als ich das las, machte es Klick und ich musste an Lew und Swetlana denken.

Wie überlebt ein Mensch all das, was die beiden überlebt haben, wie verarbeitet ein Mensch traumatische Erfahrungen? Ich habe diese Frage viele Jahre mit mir herumgetragen. An eine Antwort habe ich mich durch die wahre Geschichte von Lew und Swetlana angenähert, einem außergewöhnlichen Paar aus Moskau, das zwei Kriege, Repressionen, Verfolgungen und Demütigungen überstanden hat.

(Hier war bis Juni 2022 ein Textauszug zu lesen, ich habe ihn entfernt, weil er sich verändert hat. Das Buch über diese besonderen Menschen wird im Spätsommer 2022 erscheinen: „Wir verstehen nicht, was geschieht“, Verbrecher Verlag.)