In Deutschland wäre sein Name Leo gewesen. In Russland hieß er Lew.
Lew war ein sehr außergewöhnlicher Mensch, ich habe ihn vor mehr als zehn Jahren für meine Magisterarbeit interviewt. Es ging dabei um Veränderungen von Erinnerungen und die Frage, ob Menschen sich schriftlich anders erinnern als mündlich. Seit unserer ersten Begegnung ließ mich dieser Mensch nicht mehr los.
Lew hat vier Jahre seines Lebens im Zweiten Weltkrieg in Nazi-Lagern verbracht, anschließend neun Jahr in einem Lager des sowjetischen Gulag-Systems. Im vergangenem Jahr (2017) bin ich in die Stadt gereist, die aus dem Lagerpunkt hervorgegangen ist: Petschora in der Republik Komi, Nordosten Russlands.
Für das Magazin FR7, das samstags immer in der Frankfurter Rundschau erscheint, habe ich darüber geschrieben. Ein Zitat aus dem Text (, den ich aus Urheberrechtsgründen hier nicht vollständig abbilden kann):
Im März 1946 erreichte Lew dünn bekleidet das verschneite „Petschorlag“ (Abkürzung von Petschora-Lager), die Stadt gab es noch nicht. Viele, die hier damals ankamen, starben bald an unbehandelten Krankheiten, oder erfroren. Lew wäre es beinahe so ergangen. „Ich musste aus dem Fluss Baumstämme holen“, hatte er erzählt. Er war klein von Wuchs und schmächtig. Er stand im eiskalten Wasser und spürte, dass er das nicht lange überleben würde. „Ich habe dem Lagerleiter gesagt, dass ich Physiker bin, dass ich im Elektrizitätswerk mehr leisten könnte.“ Er durfte wechseln. „Ich hatte Glück.“
„Glück“ hatte er auch, als seine Briefe aus dem Lager ihren Weg zu Swetlana in Moskau fanden. „Glück“ hatte er auch, als sie ihn das erste Mal besuchte. Illegal. Ein ehemaliger Häftling, der als Arbeiter außerhalb des Lagers lebte und Zugang zum Gelände hatte, schmuggelte Swetlana mit abenteuerlichen Erklärungen für die Wachen hinein. Was Lew als Glück bezeichnete, setzte sich fort, bis er seine Strafe absaß, dann illegal in Moskau lebte und schließlich nach Stalins Tod rehabilitiert wurde.
Lange habe ich Lews Worte nicht hinterfragt. Aber hier in Petschora zweifele ich an seinem „Glück“.
Seit mehr als zehn Jahren beschäftigt mich immer wieder die Frage, wie Menschen solch traumatisierenden Phasen im Leben durchstehen und wie sie es schaffen, anschließend ein sinnvolles Leben zu führen, Kinder zu erziehen und das Leben zu genießen. Diese Widerstandsfähigkeit – wie entwickelt sie sich? Was ist ihre Basis?
Lew und seine Frau Swetlana haben sich Briefe geschrieben, als Lew im Petschorlag im Norden Russlands war. Der britische Historiker Orlando Figes hat einen Teil der Briefe herausgegeben, in Deutschland sind sie unter dem Titel „Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne“ erschienen. Ich habe sie noch nicht gelesen. Vielleicht aber finden sich in ihnen Antworten auf meine Fragen …