Was lesen?

Die folgenden Bücher haben mich alle sehr berührt und etwas in mir bewegt, so dass ich sie gerne empfehlen und kurz vorstellen möchte. Eine innere Verbindung zwischen den Büchern erkenne ich nicht, die Psychoanalytiker unter euch sind aber frei, mir die Deutungen dazu zukommen zu lassen.

 

Los geht’s mit dem schwersten und schönsten Buch: „Castros Kuba“ von Lee Lockwood. Der Autor dieses Bildbandes ist Journalist, er hatte als einer von wenigen westlichen Journalisten die Gelegenheit, längere Zeit mit Fidel Castro zu verbringen und ihn über die junge nachrevolutionäre kubanische Gesellschaft zu interviewen. Da ich selbst in der Sowjetunion geboren und den Kalten Krieg aus beiden Perspektiven kennengelernt habe (der tiefere Blick war natürlich nur rückwirkend möglich) fand ich an diesem Buch, dessen Text im Jahr 1967 entstanden war, die Voraussicht sehr faszinierend. Lockwood hatte sehr früh erkannt und gesehen, in welche Richtung sich Kuba entwickeln würde, wenn die USA es als Feind betrachtet würden. Dieses Buch lehrt, wie Konflikte zwischen Staaten entstehen, und es könnte helfen, die Muster solcher Konflikte in ihrer frühen Entwicklung zu begreifen und vielleicht den Lauf der Geschichte positiv zu wenden. Für alle, die sich für Kuba, Fotografie und internationale Beziehungen interessieren, ist das Buch ein Gewinn. Ich habe den Band für die Frankfurter Rundschau besprochen.

„Der König der Favelas“ von Misha Glenny – ein Thriller, ein Krimi, ein Dokument für desaströse Sozialpolitik und was aus ihr folgt. Vor dem Buch hatte ich ein Interview mit Glenny gelesen, das mir sympathisch war. Ich kenne keine weiteren Arbeiten dieses britischen Journalisten und weiß nicht, wie er grundsätzlich tickt. Was mir aber am Buch gefällt, ist die Verknüpfung von Kriminalität und sozialer Politik, die Herausarbeitung der gegenseitigen Beeinflussung und das Offenlegen von einem grundsätzlichen Problem: Kluge Sozialpolitik, die destruktive Milieus aufbricht, ohne die Menschen zu entwerten und zu töten (ja, zu töten), braucht kluge, empathische Entscheider und staatliche Institutionen, die diese Politik umsetzen können. Auch dieses Buch habe ich für die FR rezensiert.

Und nun ein Roman mit einem fast schon schmerzhaft vorausschauenden Blick: „Der letzte Kampf des Kapitän Ni’mat“, der Autor Mohamed Leftah war ein aus Marokko stammender Intellektueller, der lange in Paris gelebt hatte. Er starb 2008 in Kairo. Sein Buch handelt einerseits von einem elitären Zirkel alter Militärs in Ägypten und andererseits von der religiösen Radikalisierung der ägyptischen Gesellschaft. Es ist einerseits die Geschichte eines alternden Militärs, der seine Homosexualität entdeckt (dann folgen private Dramen), und es ist andererseits die Geschichte eines Landes, in dem innerhalb einer Diktatur eine andere radikale Bewegung entsteht. Ich habe das Buch mehrere Jahre nach dem rasch verblühten Arabischen Frühling gelesen, und beim Lesen des Buches dachte ich: „Scheiße, die ganze demokratische Revolution hatte nie eine Chance, ihr Scheitern war unvermeidbar.“ Literatur, die eine Gesellschaft so tief erfassen kann, ist für mich große Literatur. Das Buch ist hier erhältlich. (Es erschien im selben Verlag wie mein Buch, das nur für die Transparenz.)

„Mein Sohn, …“ Das sind die ersten Worte des Buches „Zwischen mir und der Welt“ von Ta-Nehisi Coates. Das Buch ist ein Art langer Brief. Es ist vielfach besprochen worden, deswegen werde ich nicht weiter ausführen, was an ihm so großartig ist (vieles). Ich möchte lediglich dafür werben, das Buch nicht nur als ein Buch über Rassismus, über Beziehungen zwischen weißen und schwarzen Amerikanern zu lesen, sondern auch als ein Buch, das grundsätzlich gut geeignet ist, um Unterdrückungsmechanismen und vor allem die Verinnerlichten Abwertungen zu verstehen. Es geht hier um die Machtbeziehungen zwischen Etablierten und Außenseitern, es macht gut verständlich, wie Unterordnung funktioniert und warum sich Menschen unterordnen (natürlich kann hier keine Rede von Freiwilligkeit sein). Lest es unbedingt, wenn ihr es noch nicht kennt.

Und wenn wir schon von Macht und Herrschaft sprechen, liegt es nah, auf dieses sehr dünne und sehr weise und sehr inspirierende Buch von Arno Gruen hinzuweisen: „Wider den Gehorsam“, gerade mal 90 Seiten lang. Pure Aufklärung. Es lässt sich vielschichtig lesen: für sich selbst, mit Blick auf eigene engere Beziehungen, mit Blick auf die eigene Prägung, mit Blick auf die uns umgebende Gesellschaft. Ich mag die unaufgeregte Sprache, die geradezu warm ist. Ich mag, dass es nicht belehrt, dass es verstehen lässt, ohne dass man sich schlecht fühlt. Ein kurzes Beispiel aus dem Text zum Thema Schuldgefühle, mit denen vor allem Kinder zu Gehorsam gedrillt werden: „Während wir ständig damit rechnen, uns schuldig fühlen zu müssen, können wir gleichzeitig die Schuld nicht bewusst aushalten, eben weil sie unseren Selbstwert untergräbt. So entstehen auch Gefühle wie Wut, Aggressivität und Gewalttätigkeit, weil wir uns minderwertig fühlen. Da Schuldgefühle als Mittel benutzt wurden, uns gefügig zu machen, können wir uns nicht durch Übernahme von Verantwortung befreien, die ein wahres Schuldgefühl uns selbst gegenüber herbeibringen würde.“ Gruen weist darauf hin, dass auch die Beziehungen zwischen den Geschlechtern etwas dazu beitragen können, dass die Gesellschaft friedfertiger wird (Gehorsam ist nichts Gutes, es ist ein Teil des Zerstörerischen). Ich kann dieses Buch jedem, ganz besonders aber jungen Eltern empfehlen. Mir hat es sehr geholfen, auch in der Beziehung und im Umgang mit dem eigenen Sohn.

Und nun zu sehr schwerem Stoff: „A Little Life“, „Ein wenig Leben“ oder wie es auf meinem Cover hießt „Malenkaja schisn“. Ich habe den Roman von Hanya Yanagihara auf Russisch gelesen, in der russ. Fassung ist auch ein langer Anhang zu den Hintergründen des Buches. Wer sich für Literatur interessiert, hat es entweder selbst schon gelesen oder etwas darüber gehört. Es ist ein harter Stoff über eine enge Freundschaft von vier Männern, von denen einer ein tiefes Trauma mit sich trägt und ein Leben lang an den Folgen von Missbrauch leidet. Das Buch ist – und hier ist der Anschluss zu Arno Gruen – auch eine gute Geschichte über falsche Autoritäten, Liebe als Unterdrückungswerkzeug (zumindest glaubt ein Protagonist als Kind, dass es Liebe ist, die ihm zuteilwird) und den langen und anstrengenden Kampf um Befreiung aus dem Korsett des Gehorsams. Das Buch hat aufmunternde, optimistisch stimmende Passagen, aber im Großen und Ganzen ist es ein Drama. Als ich es las, konnte ich es nicht einfach so zur Seite legen und dann einfach mal Spaß haben, es hatte mich auch ganz schön mitgenommen. Das will ich nicht verschweigen.

Ilja Trojnow ist einer meiner Lieblingsschriftsteller und sein Buch „Der Weltensammler“ eines meiner Lieblingsbücher. Die Geschichte über den britischen Offizier Sir Richard Burton handelt von einer realen Person. Burton hat im 19. Jahrhundert gelebt, war in Indien stationiert, hat den Hadsch gemacht und war in Afrika zu der Quelle des Nils unterwegs. Der Roman von Trojanow folgt seinen Lebensspuren und ist eine Mischung aus tatsächlich überlieferten Details und Fiktion. Im Kern ist es eine ständige Auseinandersetzung des Protagonisten mit sich selbst, die Konfrontation mit sich selbst ist in der Ferne vielleicht stärker als in einer heimischen, in einer bekannten Umgebung. Auch dieses Buch ist sehr ausführlich und breit besprochen worden, ein kleiner Auszug daraus lässt vielleicht besser verstehen, was ich an dem Buch schätze: Auf dem Hadsch (Trojanow verwendet „die Hadj“) wird Burton bewusst, was der Zweck der Steinigung des Teufels ist, denn die Pilger, die hinten stehen, werfen Steine auf die vor ihnen stehenden Pilger – die Steine treffen also die Mitmenschen. Dann schreibt Trojanow: „ … Wenn wir in unserem Mitmenschen immer nur den anderen sehen, werden wir nie aufhören, ihn zu verletzen. So gesehen steckte der Teufel in den Unterschieden, die Menschen zwischen sich aufbauten. Seine Einsicht wurde bestätigt von einem Schwall Spucke, der auf seinem Gesicht landete.“ Das Buch ist in verschiedenen Versionen erschienen. Es gibt von Trojanow noch ein biografisches Buch über Burton „Nomade auf vier Kontinenten. Auf den Spuren von Sir Richard Francis Burton“, es ist eine gute Ergänzung zum Roman, aber lest bitte den Roman zuerst.

Und jetzt ein Sprung in Zeit und Raum: das Buch „S tschego my wzjali“ von Artjom Efimow gibt es leider nicht auf Deutsch, aber ich halte es für ein wichtiges Buch zum Verständnis der Beziehung zwischen Russland und Europa. Aus diesem Grund, habe ich es sehr lang und ausführlich für die Frankfurter Rundschau besprochen. Der Autor Efimow zeigt auf, wie sich in den vergangenen drei Jahrhunderten die Geschichtsschreibung in Russland entwickelt hatte. Es war von Anfang an ein Streit zwischen europäisch geprägten und russischen Denkern, die sich bevormundet fühlten. Meine Schlussfolgerung: „Nach eigenen Worten will Artjom Efimow mit seinem Buch lediglich zeigen, wie sich die moderne russische Geschichtsschreibung entwickelt hat. Aber es leistet viel mehr als das. Es zeigt auch, wie die führenden Intellektuellen das Land prägen, seine Entwicklung beeinflussen und seine Eigenheiten erklären. Efimows Buch macht Russland ein Stück weit begreifbar. “

Ebenfalls in Russland spielt „Der Lärm der Zeit“ von Julian Barnes. Dieser kleine (weil kurze) Roman schildert das Leben des russischen Komponisten Dmitri Schostakowitsch. Das Verdienst des Buches ist es, die Emotionen eines Menschen nachfühlbar zu machen, der in einer der schrecklichsten Phasen der jungen russischen Geschichte unter Beobachtung des Schergen Stalin stand. Wir im Westen neigen dazu, etwas pauschalierend zu glauben, dass, wer so etwas Schreckliches, wie die repressive Sowjetunion erlebt hat, quasi automatisch ein Demokrat werden muss, und wer es nicht ist, der sei zu blöd daür. Aber wer so etwas erlebt hat, wie Schostakowitsch, dem fällt es nicht unbedingt leicht, ein Hurra-Demokrat zu werden. Wir unterschätzen die Wirkung der Millionen Traumatas in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auf die Bereitschaft, sich politisch zu engagieren. Das Buch von Barnes ist wie ein Spielfilm, der sehr klar zeigt, wie ein totalitäres System auf einen Menschen wirkt.

Zum Schluss etwas, das ich vor allem wegen der grandiosen Sprache des Textes empfehlen möchte: „Am Hang“ von Markus Werner. Es ist mein erstes Buch des Autors, aber sehr wahrscheinlich nicht das letzte. Es ist ein Dialog zweier Männer, die sich an einem See in Tessin treffen, scheinbar zufällig. Sie kommen ins Plaudern und werden dann schon bald ganz ernst und philosophisch. Das Gespräch handelt hauptsächlich von Beziehungen, von Frauen … und beim Lesen wird klar, es ist eigentlich ein- und dieselbe Frau und etwas ist da sonderbar. Der erste Absatz des Buches: „Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn. Verrückterweise bin ich sogar versucht mir einzubilden, er schleiche in diesem Augenblick ums Haus – mit oder ohne Dolch. Dabei ist er ja abgereist, heißt es, und ich höre nur Grillen und aus der Ferne nächtliches Hundegebell.“ Es ist ein auf niedrigem Niveau spannendes, vor allem aber ein sprachlich schönes Buch. Immer wieder lässt es einen anhalten, weil ein kluger Gedanke zum Anhalten einlädt. Oder einfach nur ein wunderschöner Satz: „Der Mond war weg, die Stille groß.“

Viel Spaß beim Lesen.